Stalingrad II

Auszug aus Russian Angst:

“Ich bin müde von den Kämpfen, vom Sterben und von der Schuld, die die Erde auf den Feldern ausschwitzt, und der Sühne, dem Sieg, dem Saufen. Ich nicke immer wieder weg. Halbschlaf-Fantasien: Abflug aus Stalingrad. Ein Flugzeug am Boden. Laufender Propeller. Feldgraue Gestalten drängen sich, versuchen, in das Flugzeug zu kommen. Addi war hier.
Unser Nachbar. Damals. Viel jünger als ich heute. Adolf Eidam, Autopolsterer aus Hamburg-Barmbek. Er schlief nicht. Ging nachts. Ruhelos. Wandernd, wie die Splitter in seinem Körper. Addi saß vor dem Fernseher. Rauchte. Roth-Händle. Trank. Astra. Bismarck-Sprudel. Wählte. Schmidt. Saß in einem der letzten Flugzeuge, die Stalingrad verlassen haben. Mein Wachtraum ist schwarz-weiß.

Ich bin nervös, nicht wegen der Recherche, eher wegen der Emotionen. Das Land erzwingt die Auseinandersetzung. Die Sowjetunion unter Stalin hielt die Opferzahlen klein. Nach
dem Krieg wurden die Leichen oft nicht geborgen. Es war 2001, als ich das erste Mal über die Leichen des Zweiten Weltkriegs gegangen bin. Es war in einem Wald. Da lagen Helme zwischen Bäumen, rostig längst, Getriebeteile, Leuchtspurmunition.

Federnd der Schritt auf 60 Jahren Waldboden. Darunter die Knochen. »Wo ein Helm liegt, liegt ein Toter.« Mir gehen die Worte der Aktivistin nicht aus dem Kopf: »Der Krieg ist erst zu Ende, wenn der letzte Tote bestattet ist.« Ich bin nicht derjenige, der diesen Krieg beenden kann. Immer wieder ist er auf der Überholspur in der jährlichen Woche der Siege. Ich bestatte nicht, ich berichte. Dieser Krieg geht nie zu Ende. In diesem Wald buddeln junge Männer die Leichen des Zweiten Weltkriegs aus, »damit sie sich an Tote gewöhnen«, sagte die Aktivistin, »und an die Kampfeinsätze der Armee«. Damals ging es noch um  schetschenien. Die Jungen in Russland müssen robust sein, denn der Wehrdienst in der russischen Armee ist immer noch schrecklich.

Anflug auf Wolgograd. »Es stand ein Soldat am Wolgastrand …« Angst beim Anflug. Graugrüne Felder von Furchen durchzogen. Einst Schützengräben? Der Flugplatz, im Januar 1943 der letzte Ausgang aus dem Kessel. Soldaten hängten sich an das Flugzeug. Angst und Panik in den letzten Stunden. Wie viele Soldaten kannten die Operettenschnulze und freuten sich auf eine einsame Wacht am Wolgastrand mit einer Fluppe in der Hand und Heimweh nach dem Vaterland. Es blieb ihnen keine Zeit, nur Angst. Wie viele haben sich gefragt, warum sie dort stehen?

Beim Blick aus dem Fenster auf die graugrüne Landschaft drängt sich die Frage auf: Sind alle Leichen geborgen? Die Erde neben der Rollbahn schwitzt die Leichen aus. Ich kann
es sehen. Sie ist voll mit ihnen. Wie viele der Männer hatten noch nie geküsst, bevor sie ums Überleben kämpften, töten mussten, getötet wurden. Wollten küssen, nicht vergewaltigen. Waren dabei, als gemordet wurde. Wollten überleben. Ihre Körper vergammelten im sandigen Boden der üdosteuropäischen Steppe. Hunderttausendfach hätten sie heute ihr Leben hinter sich, wären alt, weise, zufrieden vielleicht, hätten Kinder und Enkel, wären bestattet, hätten Blumen auf den Gräbern. Stattdessen wandern sie in Halbschlaf-Fieberfantasien beim Anflug auf Wolgograd.”

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Stalingrad

Wenn ich aus dem Kapitel “Stalingrad” lese, passiert es immer wieder, dass Zuhörer oder Zuhörerinnen weinen.
Heute vor 75 war die Schlacht um Stalingrad zu Ende. Die Körberstiftung hat zu dem Anlass ein Interview mit mir geführt. Hier der Text:

 

Sie sind 2012 im Umfeld des 70. Jahrestags der Schlacht von Stalingrad nach Wolgograd gereist. Ihre Begegnungen und Erlebnisse stehen im Mittelpunkt des Kapitels zu Stalingrad in Ihrem Buch “Russian Angst”.
Was ist Ihnen von Ihrem Besuch 2012 in Wolgograd bis heute am eindrücklichsten im Gedächtnis geblieben?

In Wolgograd haben sich meine Dankbarkeit und mein Respekt vor den Menschen, die dafür gesorgt haben, dass das Dritte Reich den Zweiten Weltkrieg nicht gewonnen hat, noch einmal um ein Vielfaches verstärkt. Wir haben es auch den Menschen in der Sowjetunion zu verdanken, dass wir in freien, demokratischen Gesellschaften leben können. Etwas, das ihnen selbst leider verwehrt geblieben ist.

Ich war in all den Jahren in Russland, Weißrussland und der Ukraine an keinem anderen Ort, an dem das Leid, das der Krieg über die Menschen der Sowjetunion gebracht hat, so spürbar ist. Noch immer sind nicht alle Opfer der Schlacht von Stalingrad geborgen. Sie liegen unter der Erde auf weiten Feldern. Dort liegen auch ihre Stiefel, Patronen, Konserven, Autositze usw. Man geht quasi über die Leichen, muss nur ein wenig buddeln, dann kann man auf Knochen stoßen. Es ist grausig, besonders, weil das Sterben so sinnlos war. In Wolgograd wird der Irrsinn von Krieg und Einmarsch in andere Länder überdeutlich. Welch ein Wahnsinn, Deutsche Soldaten an die Wolga zu treiben. Was zur Hölle wollte die Wehrmacht dort? Deutsche Soldaten hatten dort nichts zu suchen. Weiterlesen

Anflug

“Willkommen in der Heldenstadt Moskau”, sagt der Stewart nach der Landung
Der Ukrainer neben mir lächelt
“Aeroflot unterstützt die russische Filmindustrie”
Der Ukrainer neben mir horcht auf
“Russland ist 1000 Jahre alt”
Der Ukrainer wird blass

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Macht

macht es gemütlich
dann zerstückelt ein paar von ihnen

sorgt dafür, dass alle hinsehen
sorgt dafür, dass sie wegsehen können
und dann wird es wieder gemütlich

so geht macht

toter ausstellung winsawod wasserzeichen

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Hörbar Lesung 8.8. – Montag

Analsex mit Walter Ulbricht?
Pornos in Moskau – warum fördert das Goetheinstitut nicht die wahren Lehrfilme für Deutsche Sprache?
text haurdicNebenan erschießen sie Menschen, und ich trage dieses bescheuerte blaue Hemd aus Plastik, mit dem ich im Internet zu sehen bin. Jedes Mal, wenn ich mich selbst google, ärgere ich mich.

Hörbar. In der Mo-Bar
Montag, 8.8. – Achtung – 8 Uhr
Fehrbelliner Straße 6
Berlin

Getränke gibt es an der Bar ab 19.30

In der Zeit

In der Zeit, in der LKWs in Menschenmengen fahren
In der Zeit, in der Morde an Fremden jahrelang nicht aufgeklärt werden
In der Zeit, in der jeder jeden beschimpfen darf
In der Zeit, in der Menschen irgendetwas behaupten
In der Zeit, in der das wahr wird, und die Wahrheit nicht mehr in der Mitte ist, wo sie sowieso nie war
In der Zeit, in der allen alles zu viel ist
In der Zeit, in der Clowns die Leute aufhetzen
In der Zeit, in der scheinbar einfach so Kriege ausbrechen
In der Zeit, in der die Menschen ihre Unmündigkeit wiederentdecken
In der Zeit, in der die höheren Töchter sich Tattoos stechen lassen, als Beweis ihrer wilden Jugend

Die Freiheit ist vielen lästig
Es ist Zeit

die bäume brennen

der nachrichtensprecher weint
am nächsten morgen
brennen im ganzen land die bäume
jeder einzeln

die bäume brennen
jetzt ist klar, der nächste krieg wird die erinnerung und die lehren aus dem letzten marginalisieren. es geht von vorn los.

der nachrichtensprecher weint

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