toter oktober

über dem grauen himmel
oktober in moskau
versinkt ein stern
er war mal rot

nicht, dass jemand diesen stern aufrichtig gemocht hat
eine form der hassliebe

breitet sich der graue schleier über das land
die anderen länder

und du läufst durch diese länder und sammelst die geschichten der millionen
verhungerten
erfrorenen
erschossenen
bepissten und gebrochenen
derer, die nicht zu ende leben durften
derer, die überlebt haben
suchst die geschichten derer, die nicht leben durften

füllt die gläser. deckt den tisch. mit reichen gaben. alles, was sein muss. salat olivier, kartoffeln und fleisch, gurken und tomaten. und brot. nicht vergessen
und trinkt
auf die, die kommen
auf die, die gehen
auf die, die schon da waren

wenn du nachts durch die höfe der städte gehst, dann kannst du sie noch hören, die wagen, die vorfuhren
wenn du nachts durch die höfe gehst, dann kannst du sie wieder hören, die stille, die angst derer, die schon da waren
wenn du nachts im treppenhaus lauschst, dann kannst du sie schon hören, die schüsse
die schreie derer, die gehen
wenn du nachts in den himmel schaust, dann ist da ein glühen im südosten, es ist die front, weit weg noch, doch tödlich für die, die noch kommen
wenn du nachts durch die städte gehst, dann triffst du die gestalten in lumpen gewickelt
mit durchtretenen stiefeln
singen sie, zu ehren und preisen das reich und die gerechte sache für die sie ermordet wurden
wenn du nachts durch die städte gehst, dann siehst du keine gesichter mehr

denn du weißt
wer angst zeigt, ist das nächste opfer

es geht wieder los
komm, lass uns gehen, bevor es zu spät ist

trauma lässt sich später auch erfahrung nennen

Krim, Krieg, krude Geschichten – Ein Mythos wird vergewaltigt

Nein, es ist nicht alles schön auf der Krim. Und es geht auch nicht allen gut.

Aber: Wer schon immer mal krimtatarische Gedichte hören wollte, der hat hier die Möglichkeit. Ich finde, es lohnt. Krimtatarisch klingt einfach sehr schön!

Das Feature gibt es hier:

 

oder hier:
https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/lesenswert/swr2-lesenswert-feature-krim-krieg-krude-geschichten/-/id=659892/did=20940878/nid=659892/kzx56b/index.html

Krim, Krieg, krude Geschichten – Hörtip

Kleiner Tip:
SWR2 Literaturfeature, 20.2.2018, 22.03h

Die Krim – ein Mythos.
Verklärt als Urlaubsparadies, auch in der Literatur. Immer geht es um Liebe, Sex, Affären. Da führen Damen Hündchen aus und nehmen altmodische Aufreisser mit ins Hotelzimmer. Da sterben Schönheiten in Eifersuchtsdramen im Harem. Nirgendwo im kalten Riesenreich ist es freizügiger. Kurz gesagt: Für russische Autoren ist die Krim ein Paradies.

Anders für die ukrainischen und krimtatarischen: Sie werden unterdrückt. “Raben sind auf der Krim gelandet”, dichtet Diljawer Osmanow und meint die “freundlichen Menschen”, von denen Putrin sprach, als er 2014 die Krim einkassiert hat, als wäre er ein Schulhofschläger und die Krim das Smartphone des schwachen Nachbarn.

https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/lesenswert/swr2-lesenswert-feature-krim-krieg-krude-geschichten/-/id=659892/did=20940878/nid=659892/kzx56b/index.html

Auf den Fotos:
Nichts begriffen: Der Kult um Maximilian Woloschin:

 

 

 

 

 

Touristin zwischen Puschkin und dem Brunnen der Tränen:

 

 

 

 

Victor Stus – der ukranische Schriftsteller hat Angst:

 

 

 

 

Aufkleber an der Tür der Krimtatarischen Zeitschrift: “Wir haben das Land vor den Faschisten geschützt, wir werden das Land vor Extremismus schützen”.

“Спасибо Деду за Победу” – “Danke, Opa, für den Sieg”

Wolgograd ist ein Wechselbad der Gefühle. Dankbarkeit für die Befreiung Europas von den Nazis. Unfassbar die vielen Toten, unfassbar die Sinnlosigkeit. Mich hat der Militarismus der Regierung schwer irritiert und in einen Zwispalt gestürzt: Wie viel Kritik darf ich mir als deutscher Autor (Jahrgang 1967) erlauben. Oder muss ich sogar? Welche Verantwortung habe ich als Deutscher der Enkelgeneration?

Auszug aus Russian Angst:
“Siegen ist zeitgemäß, wenn orange-schwarze Georgsbänder die Menschen zusammenbinden. Schon wird ein neues Siegen vorbereitet und ein neues Sterben alsbald. Ja, bereitet sie nur vor, die Kleinen. Die Veteranen sterben. Da braucht man neue Siege, bitter erkämpft, neue Helden und neue Veteranen, sonst ist das Kostümfest hin. Darum wäre es nicht schade, finde ich, immer im Konflikt mit mir selbst, wie viel Meinung ich als Deutscher dazu haben sollte.

 

Auf der Straße herrscht Familienfeststimmung. Die Mädchen haben Beine, lang und länger, und tragen Röcke, kurz und kürzer, tragen zur Uniform Schuhe mit hohen Absätzen. Und kommt ein Veteran vorbei in Paradeuniform mit geschwellter Brust und Lenin-Orden, dann wird schnell ein Selfie gemacht. Gerade sein Gang, am 9. Mai hat er gesiegt, sonst ist er ein alter Mann mit Stock und einem Enkel, der selbst längst Vater ist. Dann kommen Kinder mit Blumen. »Danke für den Sieg, Veteran!« Schnell noch ein Foto, und ein letztes Mal strafft sich der alte Körper und steht gerade, die Hand an der Mütze, grüßt er nicht ihn, Stalin, er grüßt die Digitalkamera. Und auch ich denke wieder einmal: Schön, dass die Nazis weg sind, danke, Veteran.”

Russian Angst in Frankfurt/Main

Donnerstag 12.10.2017 um 17h auf der Buchmesse. Zur blauen Stunde auf dem blauen Sofa.

http://www.das-blaue-sofa.de/veranstaltungen/frankfurter-buchmesse-2017/do/

100 Jahre Russische Revolution.

100 Jahre nach der Revolution ist die russische Gesellschaft von Ängsten geprägt, die zurück reichen bis ins Jahr 1917. Es ist die Angst der Regierenden vor der eigenen Bevölkerung, die sie jeden Ansatz von Opposition im Keim ersticken lässt. Es ist die Angst vor der – Achtung, großes Wort – “Wahrheit”, die Angst vor der Realität. “Mein Gott, der Kaiser ist ja nackt…”

Was blieb von der Revolution vor 100 Jahren?  Die Angst vor Umbrüchen; in der Sowjetunion als Konterrevolution bezeichnet, heißen sie nun “bunte Revolutionen”. Angst durchzieht die Gesellschaft, Angst ist die Basis des Geheimdienstes und ihres obersten Dieners Präsident Putin. Darüber werden wir diskutieren. Mit dabei Karl Schlögel und Gerd Konen. Moderation: Marie Sagenschneider.

Freiheit ist stärker als Angst: Gewerkschaftshaus in Kiew