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Anlässlich der heutigen Bundestagswahl und meiner Freude, in einer Demokratie leben zu dürfen, ein paar Erinnerungen an 2012.
Frühjahr in Jaroslawl. Knapp vier Zugstunden nördlich von Moskau wird der Bürgermeister gewählt. Goldene Kuppeln wetteifern um den schönsten Glanz in der Frühjahrssonne. Es liegt Schnee, und auf der Wolga treiben Eisschollen. Jaroslawl ist ein Idyll wie aus dem russisch-orthodoxen Tourismuskatalog. Ein Wahllokal ist in einer Schule, drei Stockwerke, roher brauner Ziegel. In einem Fenster steht ein großer Lautsprecher, eine russische Fahne hängt schlaff herunter. Auf dem Flur wird viel geschwatzt, es gibt Tee und Kekse für die, die gewählt haben. Im Wahllokal sitzen zehn Leute in einer Reihe an zehn Tischen und warten auf Wähler.
An der Wand hinten sitzen Olga aus Moskau, 24 Jahre alt, damals gerade arbeitslos geworden, ihre Freundin und eine ältere Frau, gleichfalls aus Moskau. Sie gehören zu 350 Wahlbeobachtern, die aus Moskau angereist sind, organisiert von der Bewegung “Graschdanin Nabljudatel”, “Der Bürger als Wahlbeobachter”. Im Frühjahr 2012 haben noch viele Menschen an die Demokratisierung Russlands geglaubt.
“Graschdanin Nabljudatel”, “Der Bürger als Wahlbeobachter”
Olga hat mit anderen Wahlbeobachtern telefoniert. Angeblich finden in ganz Jaroslawl Wahlfälschungen statt. Es sind Gruppen junger Leute gesehen worden, die mit Stimmkarten von Wahllokal zu Wahllokal ziehen und mehrfach abstimmen. Wahlfälschung war in der Sowjetunion normal. Und die Leute, die die Wahlen durchführen, sind größtenteils immer noch dieselben. Viele finden nichts dabei.
Olgas Mund wird schmal. Sie behält die Urne im Auge, macht Striche auf einem Zettel. Am Ende sollen nur so viele Stimmzettel in der Urne liegen, wie Striche auf den Listen sind.
Olga dreht eine Zigarette, geht raus. Es gibt zwei Kandidaten, beide sind sehr reich. Der eine tritt für die Regierungspartei an und verdient sein Geld hauptsächlich mit Immobilien, der andere ist vor kurzem aus der Regierungspartei ausgetreten und präsentiert sich nun als Oppositioneller und Reformer.
Vor dem Haus stehen zwei junge Männer und eine Frau. Sie geben sich als Wahlbeobachter aus, beobachten aber gar nicht. Statt dessen sprechen sie immer wieder Leute an und gehen mit denen dann etwas zur Seite. Olga hat den Verdacht, dass die drei jedem, der für den Regierungskandidaten stimmt, Geld bezahlen. Olga spricht sie an. Die drei streiten alles ab, wollen sich nicht fotografieren lassen, weichen aus.
Ein Mann mit Kinderwagen nähert sich der Gruppe. Als er Olga und das Mikrophon sieht, stutzt er. Olga fragt ihn, ob ihm Geld angeboten wurde. “500 Rubel habe ich bekommen. Aber das kriegt doch keiner mit. Und auf meine Wahl hat das auch keinen Einfluss…” – “Ist Ihnen denn klar, dass das nicht ehrlich ist?”, fragt Olga. “Wieso? Die können doch meine Stimme nicht kaufen. Die bieten mir Geld an. Warum soll ich das nicht nehmen?” – “Sympathisieren Sie denn mit einem der Kandidaten?” – “Mit keinem. Weder mit dem einen noch mit dem anderen.”
Olga geht weiter auf und ab, sucht die drei Typen. Sie möchte sie gern auf frischer Tat beim Stimmenkauf ertappen. Doch die drei sind verschwunden.
In diesem Wahllokal wurde nicht gefälscht. Darauf ist Olga stolz. Es ist auch ihr und den anderen freiwilligen Wahlbeobachtern zu verdanken. Und der Kandidat der Opposition gewinnt tatsächlich. Ihr Engagement hat sich gelohnt.
Wenig später folgt Ernüchterung. Der gewählte Bürgermeister wird unter Korruptionsvorwürfen festgenommen und zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Auch Boris Nemzow hatte sich übrigens in Jaroslawl engagiert. Er saß ab 2013 als Abgeordneter im dortigen Regionalparlament. Am 27. Februar 2015 wurde er nicht weit vom Kreml erschossen. 1997 und 1998 war er stellvertretender Premierminister gewesen.
Alle, die immer behaupten, hier in Deutschland sei es doch auch alles sehr schlimm und man könne niemanden mehr wählen und die politische Kultur sei auch nicht viel besser als in Russland, seien darauf hingewiesen, dass zu Nemzows Bestattung kein einziger Regierungsvertreter kam. Und dass sein Mord keine Chance auf Aufklärung hat.