Corona 4

Dich nicht zu treffen, ist ein Teil meiner Sehnsucht
Dich nicht zu küssen, ist ein Zeichen meiner Liebe
Dich nicht zu berühren, ist meine neue Nähe
Dich nicht zu lieben, klappt nicht



mit dir zu tanzen, ist heilig
ich tanze allein
mit dir zu essen, ist begehren
ich esse allein
menschen beim spielen zuzusehen
ich bin mein eigenes theater

mein wohnzimmer ist die bühne
meine zuschauer sind die bücher
mein spaß ist kostenfrei
was nichts kostet, ist nichts wert

das neue wir stinkt nicht schmeckt nicht raucht nicht schwitzt nicht schmatzt nicht küsst nicht berührt nicht streitet nicht redet nicht singt nicht, das schon mal gar nicht, fickt nicht

das neue wir ist allein

Veröffentlicht unter Corona

Corona 9

nach 10 monaten zu hause
fragte er sich
was
er noch
möchte
in den jahren seines lebens

verpasst
und nun
ist es
vorbei
für lange zeit

Lebe jetzt
Demnächst
Mal wieder

Veröffentlicht unter Corona

Corona 2

das Zeitgefühl ist aus den Fugen
die Zeit selbst scheint verloren

die Balance
schwierig

das Ich
verloren

die Seele
verliert die Liebsten

möchte dich durch Zufall treffen
möchte überrascht sein
beglückt
dich erst
umarmen
riechen
spüren

längst wird
zuviel gesprochen
genug gesagt

Gedanken gehen rückwärts
zu dir
zu anderen
planlos und schön

halbe Gesichter
halbe Blicke
fremder Atmen
bedrohlich

möchte dich schmecken
kleiner Tod?
große Erinnerung

Veröffentlicht unter Corona

Corona 11

kannst du fliegen?

Nein.

ich zeig es dir
schau: so fliege ich hoch zu all meinen freunden

Können die denn auch fliegen?

na klar. denn wenn einer fliegt, fliegen alle

Wie macht ihr das?

weiß nicht. das passiert so, wenn es am traurigsten ist

Veröffentlicht unter Corona

Corona 12 Happy End

Mercedesstern am Ostbahnhof –
Happy End bei anhaltender Globalisierung
Sieg der Controller und Buchhalter über grausam entgleiste Ideologien
Alles wird gut, sagt die Mutter zum Kind und weiß nicht, dass sie lügt
Bauhaus, wenn’s gut werden muss

Ziellos die Menschen am Ostbahnhof
Sehen den leuchtenden Stern am ruhigen Weihnachtsfeiertag
Einst war der Bahnhof Hauptbahnhof
Man wusste nicht, wohin
Doch Hauptbahnhof ist wenigstens etwas
Ohne Mercedesstern
Lob des Schlesischen Bahnhofs
Wer will denn schon nach Osten
Wer kommt denn da aus Schlesien

Aus der Bahn geraten
Zeitlos ist hier nur die Eile
Weltweite Logistikfirmen
Mutation des Reisens
Die Waren fahren weiter um die Welt
Das kann doch nicht so einfach aufhören!

Am stillen Weihnachtsabend. Im Zug von Basel nach Berlin. Endstation am Ostbahnhof. Da dachte ich an dich und all die Weihnachtsfeste und ihre Verheißung. Dass es immer so bleiben kann. Dass es immer so weiter geht. Jahr um Jahr. Und dann noch ein Jahr. Weil es so schön ist, glücklich zu sein. Degetomomente. Es ist kalt am Ostbahnhof. Leer der Weg entlang der Mauer. Hergerichtet von Künstlern, damit Berlin die Touristen dieser Welt bestaunen kann. Jeder, der schneller geht in dieser

Heiligen Nacht, macht sich verdächtig. Vergangenheit hat Pause an der East Side Gallery sind keine Touristen zum Verlieben bei dem Wetter. Drehe mich um, als ich Schritte höre. Im Laubengang des Bauzauns der immer weiter wuchernden Hochhäuser am Ufer der Spree. Bald verdecken sie den Blick auf den strahlenden Mercedesstern. Sehne mich nach der Wärme des Sommers. Sehne mich nach deinem Geruch. Es ist schön.

Die Verse sind längst aufgebraucht
Lügen hat nun keinen Zweck mehr
Deutlich klagt der Stern die Menschen an
Jeder kann es sehen
In seinem Licht wird immer noch geraubt und getötet
Weltumspannend versagt die Stimme

Fahren virtuelle Telefonuser um die Welt in Bruchteilen
Gehts in Stücke – Weltweit
Es gibt kein Entkommen vom Planeten
Da hilft auch kein SUV

Stille Stadt seit langem erdrückt den Raum, der sonst betäubt.
Was nützt der Freiraum einsam im kalten Licht des drehenden Sterns am Ufer der Spree. Willkommen zu Hause.
DHL fährt Mercedes.
Weltweite Abholzettel im Hausflur.
Ja.
Es ist wieder Weihnachten.
Die Stadt ist stiller als sonst.

Wenn keine Autos fahren
ist die Zeit der Füchse
Wenn keine Autos fahren
ist Wahrheftigkeit gefordert

Das Grundrecht ist ein Happy End

Veröffentlicht unter Corona

Corona 8

ich habe ein neues Parfum
ein sehr gutes
wie ich finde
dezent

sinnlos bei 1,50 Abstand

Blick auf das Impfzentrum

Veröffentlicht unter Corona

Von der Sowjetunion lernen heisst Schlangestehen!

Nur, weil man neuerdings ein bisschen warten muss, bevor man irgendwo reinkommt, leben wir noch lange nicht in einer Diktatur.

Auszug aus dem Feature zum 60ten Geburtstag von Vladimir Sorokin. Hier die ganze Sendung:
https://nachmoskau.de/prophet-des-untergangs-feature-uber-vladimir-sorokin/?preview_id=2497&preview_nonce=340b7a30bc&preview=true&_thumbnail_id=2509
Text:
“Die Schlange”, Haffmans Verlag Zürich 1990.
Dank an Tilmar Kuhn und Ilka Teichmüller.

Lenin DaDA? Zum 150ten Geburtstag

Heute wird Vladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, 150. Der Geburtstag gilt als sicher, große Teile besonders seines späteren Lebens müssen unter dem Blickwinkel der Verfälschung betrachtet werden. Knapp 2.800 Denkmäler zählte die BBC vor drei Jahren in Russland: Lenin lesend auf einer Bank, sprechend zum Volk, entschlossen in eine helle Zukunft blickend. Auch in der Metro ist Lenin allgegenwärtig (siehe Foto). Ich hatte die Ehre, Lenin für den SWR zu würdigen.

Zürich, 1916, das Cabaret Voltair in der Spiegelgasse. Abend für Abend vollführten die Künstler ein wildes, sinnlos anmutendes Spektakel. Der Überlieferung zu Folge saß dort an einem Tisch ein kleiner Mann mit leicht asiatischen Gesichtszügen. Ein Nachbar. Und jener Nachbar, der so gar nicht wie ein Schweizer aussah, amüsierte sich dermaßen, dass er vor Freude mit der Hand auf den Tisch haute und mit fistelnder Stimme laut rief: „Da! Da! Da!“ Oder auf Deutsch: “Ja! Ja! Ja!” Und bald riefen alle im Cabaret Voltair: „Da! Da! Da!“. DaDa. Ein Begriff war geboren. Der kleine Nachbar war niemand anderes als Vladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin.

Wieviel DaDa steckt in der russischen Revolution? War Lenin DaDaist? Angesichts der Millionen Menschen, die in Folge seiner Machtübernahme in Russland gestorben sind, mutet der Gedanke zynisch an. Dabei ist der Rückblick auf Lenins Leben und Wirken von Mythen und Verherrlichung durchzogen. Zunächst kam Lenin zu spät. Als er 1917 aus dem Schweizer Exil nach Petrograd kam, war der Zar bereits gestürzt und eine bürgerlich-liberale Regierung an der Macht. Die Revolution musste also in den Oktober verschoben werden. Und Lenin musste natürlich ihr Anführer sein.

Was folgte waren ein Bürgerkrieg, revolutionäre Säuberungen, und schließlich, nach Lenins Tod, Stalin, der die Zahl der Toten in exorbitante Höhen trieb. Vor ihm hatte Lenin angeblich gewarnt. Ein sinnloses Massensterben.

Lenin wollte angeblich keinen Personenkult. Doch nach seinem Tod wurde er nicht beerdigt, sondern ausgestellt und bis heute liegt er einbalsamiert im Mausoleum auf dem Roten Platz. Der Personenkult nahm bisweilen absurde Züge an. Wissenschaftler haben seinen Leichnam mehrfach auseinander genommen. Besonders sein Gehirn. Akribisch suchten sie dort nach dem Schlüssel zum Kommunismus oder wenigstens nach einem Nachweis für das Genie des Revolutionsführers. Das ist kein Witz. Jahrzehnte standen Witze über ihn unter Strafe.
In den 90ern führte der Leningrader Untergrund-Musiker Sergej Kurjochin im Fernsehen den angeblichen Nachweis, dass Lenin zu viele halluzinogene Pilze gegessen habe:
“Ich habe hier einen Auszug aus einem Brief Clara Zetkins an Rosa Luxemburg: „Gestern war Wolodja hier.“”

Wolodja ist die Koseform von Wladimir. Gemeint ist Lenin.

“Er hatte es sehr eilig und bat um eine Kleinigkeit zu essen. Er wollte unbedingt Pilze.”

Und dann behauptete der Musiker, halten Sie sich fest, es ist revolutionär: Lenin habe sich dabei selbst in einen Pilz verwandelt.

In Russland ist Lenin zur Zeit übrigens gar nicht beliebt. Und auch das ist nicht etwa Einsicht, es ist die Vorgabe der Geschichtspolitik. Denn Revolutionen sind für Präsident Putin per se schlecht. Er hält es mit Stalin, den Lenin wohl verhindern wollte, der gleichwohl die gottgleiche Verherrlichung Lenins in ungeahnte Höhen trieb. Und die Anhänger des Sowjetkommunismus weltweit folgten dem kritiklos: Hier ein Auszug aus dem Requiem für Lenin von 1937 auf dem Höhepunkt des Terrors gegen die eigene Bevölkerung. Text Bertolt Brecht, Musik Hanns Eisler:

“Als Lenin starb war es, als ob der Baum zu den Blättern sagte: „Ich gehe!“”