stalingrad 2 – addi läuft

Anflug auf Stalingrad. Halbschlaf nach 2 Stunden. Morgenmaschine. Moskau hinter mir. Huhn zum Frühstück, Getreidebrei. Sonnenschein, gutes Wetter.

Halbschlaffieberphantasien.
Abflug aus Stalingrad. Ein Flugzeug am Boden. Laufender Propeller. Gestalten drängen sich feldgrau. Versuchen, in das Flugzeug zu kommen. Addi war hier. Unser Nachbar. Damals. Viel jünger, als ich heute. Adolf Eidam, Autopolsterer aus Hamburg Barmbek. Schlief nicht. Ging nachts. Ruhelos. Wandernd, wie die Splitter in seinem Körper. Addi sass vor dem Fernseher. Rauchte. Rothändel. Trank. Astra. Bismarck Sprudel. Wählte. Schmidt. Saß in einem der letzten Flugzeuge, die Stalingrad verlassen haben.

Das Flugzeug setzt auf. Landung dort, wo er abflog. Gorod Geroj steht am Flugplatz. Heldenstadt.

Nicht Addi. Junkers. 52. Schüsse. Soldaten hängen an Tragflächen, Fahrgestell. Reißen an Türen, fallen, sterben. Addi war drin. Im letzten, in einem anderen. Wie viele letzte gab es, bis das letzte weg war und die letzten im Eis allein blieben. Gesichter gibt es nicht mehr. Ihre Furchen sind die Landschaft.

Addi schlief nicht. Er wanderte.

Wie viele von ihnen hatten noch nie geküsst, bevor sie ums Überleben kämpften, töten mussten, getötet wurden. Hunderttausendfach hätten sie heute ihr Leben hinter sich, hätten Kinder und Enkel, wären bestattet, hätten Blumen auf den Gräbern. Statt dessen wandern sie in den Köpfen in Halbschlaffieberphantasien beim Anflug auf Wolgograd. Wollten küssen, nicht vergewaltigen. Waren dabei, als gemordet wurde. Wollten überleben. Ihre Körper vergammelten im sandigen Boden der südosteuropäischen Steppe. Ihre Knochen wandern auf den Feldern, zerrissen von den Traktoren der Kolchosen und Sowchosen, die Getreide und Kartoffeln anbauten für den Sieg im kalten Krieg.

Viele, die wir finden, sind unvollständig, sagt Zhana. Meist fehlt der Kopf. Wir wissen nicht, welcher zu wem gehört, wir bestatten sie dann ohne.

Die Erde wandert. Schwitzt. Ruhelos die Lebenden (längst tot) und die Toten. Vorwärts. Вперед. Jeder liefert jedem Qualität in der Landwirtschaft. Fort mit den Knochen, und was Gutes angebaut. Kolchosbauern pflügen das Feld. Fahren Schädel auseinander und Beine.

In der Stille des Feldes bis zum Horizont die, die nicht leben durften. Ihre Schuhe.

Schuhe sind ein Problem, sagt Zhana, ein psychologisches für euch Deutsche; ein reales für uns Russen. In Georgien haben die russischen Soldaten Stiefel geklaut, sagt Zhana, 2008, und Jacken und Wurst, damit sie überhaupt leben können.

Armee ohne Gedächtnis. Heldenfabrik. Ohne Orden keine Würde im Alter der Diktaturen. Es ist ein Menschenrecht, Geschichte zu verherrlichen.

Weißer Rauch am Beginn des Winters. Der Winter ist spät dran, sagt Zhana, zurück in Moskau, Hauptstadt der Geschichtsklitterung. Stalin ist auch wieder da. Warum auch nicht, sagt Zhana. Ihr Deutschen seid geschichtsvergessen, oder warum habt ihr alle Hitlerdenkmäler abgeräumt. Ihr müsst eure Geschichte lieben.

Sprachlos am frühen Morgen auf der Autobahn. Dunkelheit in Wohngebieten. Ich zeige dir, was Geschichte ist, sagt Zhana, Kosakenzeit. Sie singt Pionierlieder. Nach Westen. Es wird spät hell. Weiße Landschaft, Grautöne, Birken. Ganz schief. Schwarzweißfilm. Landhäuser. Datschen im Winterschlaf. Ein Feld. Asphaltflächen.

Im Rücken einen Wald, einen Fluss vor Augen. Zweitausend Kilometer weit Berlin, einhundertzwanzig Kilometer Moskau.

Die Felder frieren zu. Bis Stalingrad ein Jahr. Kosaken in Fellmützen schwingen Säbel.

Zhana lacht. Ihr Deutschen, sagt sie, ihr Deutschen friert zu früh. Es ist noch nicht kalt. Dann läuft sie los und klaut einem Kosaken die Schaffellmütze. Zotteln hängen ihr ins Gesicht. Der Kosak zückt den Säbel, läuft ihr nach, knallt mit seiner Peitsche hinterm tollen Weibe. Mein Gott, es ist 2012. Später kuscheln sie unterm Heizpilz im Cateringzelt, Ökobarbaren.

Warum, frage ich. Warum nicht, sagt der Kosak. Ein Mann muss kämpfen, um ein Mann zu sein. Dann gießt er sich süßen Tee in den Hals. Als nächstes steckt er Zhana die Zunge in den Mund. Pass auf, dass es dir nicht das Fell verbrennt. Ich fahr dann schon mal. Ihr könnt ja bis Moskau reiten.

Nachts hat es in Moskau geschneit. Ich binde mir einen Schlips und einen für den Schweizer Kollegen. Addi. Mein Vater war weg, Dienstreise. Addi half mir, den ersten Schlips zu binden.