Anflug auf Wolgograd. Die letzte Schlacht längst geschlagen. Müde geworden von all den Schlachten und Toten in der Erde, übriggeblieben vom Wahnsinn, der die Jungen frisst.
Müde vom Erzählen des immer gleichen Krieges mit immer anderen Jungen, die nicht älter werden durften, die nie geküsst haben, nie gelebt, in immer anderer Erde vergammelt sind. Jetzt Stalingrad im sandigen Boden der südosteuropäischen Tiefebene. Hunderttausendfach wären sie längst bestattet, alt, weise, zufrieden vielleicht.
Meine letzte Schlacht des letzten großen Krieges, der die Mythen von Helden und Opfern geschaffen hat, von Tapferkeit und Kriegswende im bald trockenen Gras an der Wolga, wo einst Stalingrad stand, müde von den Kämpfen, vom Sterben, von der Schuld, die die Erde auf den Feldern ausschwitzt, und der Sühne, dem Sieg, dem Saufen.
Das Land zwingt. Einmal mehr. Der Krieg ist erst zu Ende, wenn der letzte Tote bestattet. Ich bin nicht derjenige, der diesen Krieg beenden kann. Immer wieder ist er auf der Überholspur in der Woche der Siege und der Angst.
Im Anflug am Vortag des großen Sieges im großen Krieg.
Es stand ein Soldat am Wolgastrand.
Hier wird kein Grundgesetz verteidigt.
Angst beim Anflug. Graugrüne Felder von Furchen durchzogen. Einst Schützengräben? Einst der letzte Ausgang im Kessel. Soldaten hängten sich an das Flugzeug. Angst und Panik in den letzten Stunden. Weit weg von Zuhause stand keiner mehr am Wolgastrand und Vaterland war ganz woanders. Wie viele Soldaten kannten die Operettenschnulze und freuten sich auf einsame Wacht am Wolgastrand mit einer Fluppe in der Hand und Heimweh nach dem Vaterland und es blieb ihnen keine Zeit nur Angst.
Wieviele haben sich gefragt, warum sie dort stehen?
Im Anflug die Frage: Sind alle Leichen geborgen? Mehr Hoffnung. Die Erde neben der Rollbahn schwitzt die Leichen aus. Ich weiß es. Sie ist voll mit ihnen.
Schlaglöcher. Der Airbus schlingert kurz, wird langsamer. Landschaft in Schwarzweiß voller Soldaten. Das letzte Flugzeug ist längst weg. Dieses ist ein anderes in einer anderen Zeit.
Gorod geroi steht am Flugplatz. Heldenstadt. Gewonnen wird unter Hammer und Sichel, das ist hier seit 100 Jahren so. Symbole einer Zeit, die nicht mehr da ist und nicht vorüber.
Willkommen in Stalingrad, der Geisterbahn des Siegespop.
Ort im Fieber. Ort der ewigen Schlacht auf den Feldern. Ein halbes Jahr ist keine Ewigkeit, doch Teil dieser. Ort der Legenden, der Schlacht auf den Feldern, die hinterher die Helden schafft. Ort der Angst eben dieser Helden, die ewig verreckt sind und doch nicht sterben dürfen.
Anfahrt auf Stalingrad. Die Straße entlang, vorbei an kleinen Häusern, Kaserne, erste Fabriken, wo war denn die berühmte Traktorenfabrik, weit weg, die Stadt ist lang, und überall lauert ein Schlachtfeld, irreal, gezeichnet von Filmen, Fotos, Worten, danach geschrieben, um die Legenden zu erschaffen, die Bedürfnisse.
Gruselkabinett im Keller, Paulus, Schreibtisch, Lazarett, Sandsäcke hinter der Kinderabteilung, historischer Ort, immer Kaufhaus gewesen, jetzt wieder.
Es soll wieder Stalingrad heißen, sagt der Veteran, damit die Heldentat nicht vergessen wird, weil doch niemand weiß, wo Wolgograd ist, und jeder, was in Stalingrad war.
Die Kinder in Stalingrad spielen nicht mit Holzgewehren. Einigen fehlt die Hand oder ein Fuß. Kinder mit Eis in der Schlacht der Sechsjährigen immer im eigenen Spiel von Helden und Verlierern, werden sie älter, werden die Kriege real. Viele werden sterben, ihre Jungsspiele verfluchen, bei der Wachablösung am großen Hügel mit der Mutter mit dem Schwert, die die Trauer frisst und die Trauernden gleich mit.
Am Tag des Sieges klimpern die Orden und die Bäume sind frisch geweißt und der Platz wird noch einmal gefegt, bevor die Luft von Abgasen der Panzer geschwängert wird. Krieg war so lustig, damals, als die Rotarmisten die Mädchen noch auf die Laster hoben. Dann ging es nach Berlin, mit den roten Fahnen der roten Armee, damit sie auf dem Reichstag wehen, kurz nach dem letzten Schuss, wenn Stalin kommt, den Sieg zu betrachten. Und da ertönen sie auch schon die Rufe aus der befreiten Menge der Sieger und Überlebenden: Long live Stalin! Vivat Stalin! und der Kascha hat wieder Fleisch und auch die Deutschen dürfen wieder mitfeiern, nur die Faschisten nicht, und Zigarettenfilter knicken, und sich beim Siegeswalzer verlieren und Polka tanzen und Katjuscha singen, Apfelbäume blühten und die Birnen, nicht der Flieder, sagt Zhana, das habt ihr Deutschen getextet, wegen des Reims.
Stalin lacht nicht. Würdevoll, hart und gütig. Freund aller Kinder, sagt Zhana, auch heute wieder. Putin auch, im fernen Moskau. Freund aller Kinder und Vater aller Geschichtsklitterung, Putin von Beruf Verkleisterer, küsst er Säuglingen den Bauch, kleinen Jungen. Deshalb ist er noch lang nicht schwul. Putin, den alle kennen, den keiner mag. Nur Schröder und Berlusconi. Aber die mag ja auch keiner. Putin, der nicht vergessen werden kann und auch nicht darf.
KZ-Stalingrad, Rastpunkt der Hügelstürmer. Ein Museum, ein Cafe, Kellnerinnen in Uniform. Kaffee unter SEINEM Portrait geht nicht, ich warte draußen.
Draußen die jungen Mädchen, herausgeputzt am Feiertag, mit kurzen Röcken, hohen Schuhen und, keck auf dem frisch gemachten Haar, ein blass grünes Schiffchen voller Orden. Die Mütze gibt’s für ein paar Rubel, sagt Zhana, unten an der Tramwaihaltestelle vorm Mamajewhügel.
Die Mutter mit dem Schwert blickt darüber hinweg in die Ferne, Berlin.
Siegen ist zeitgemäß, wenn orange-schwarzen Schleifen die Menschen zusammenbinden. Alles, was sie haben ist der Sieg. Schon wird ein neues Siegen vorbereitet und ein neues Sterben alsbald. Ja, bereitet sie nur vor, die Kleinen. Die Veteranen sterben. Wir brauchen neue Siege, bitter erkämpft und neue Helden und Veteranen, sonst ist das Kostümfest hin.
Siegen ist lustig, sagt Zhana, und sieht sehr schön aus, als sie das sagt, heute, 70 Jahre nach der großen Schlacht um die Symbole. Die Mädchen haben Beine, lang und länger. Und, oij, da kommt ein Veteran vorbei, geschwellte Brust mit Leninorden, gerade sein Gang, am 9. Mai hat er gesiegt, und schnell ein Foto mit dem Stalinopa in Paradeuniform, sonst alter Mann mit Stock und Enkel, selbst längst Vater. Und Kinder kommen mit Blumen, Danke für den Sieg, Veteran. Schnell noch ein Foto und ein letztes mal strafft sich der alte Körper und steht grade, die Hand an der Mütze grüßt er nicht IHN, Stalin, er grüßt die Digitalkamera. Und auch ich denke, schön, dass die Nazis weg sind, Danke, Veteran.
Über allem die Mutter mit dem gehobenen Schwert frisst ihre Kinder.
Es ist heiß auf den Feldern um Wolgograd. Noch ist das Gras grün. Gestrüpp. Grillen. Auf einem kargen Baum, Krähen. Sonst Horizont. Es ist heiß, sagt Zhana, und schwitzt auf der Oberlippe, die Erde liegt im Dauerfieber. Knochen auf dem Boden im knöchelhohen Grass. Eine Kuh oder ein Pferd, die Schulter wohl. Eine Feldküche war hier, sagt Zhana, schau, Konservendosen ganz vom Rost zerfressen. Ein paar Stiefel, nicht gut erhalten, eine Handvoll Patronen, Mauser, nicht abgefeuert. Darunter die Knochen der Soldaten. Die Erde schwitzt die Toten aus.
Neben den Friedhöfen, irgendwo eine Stunde weit von Stalingrad, letzte Zuflucht tief unter der Erde in der Schlacht der Erdmenschen, in Löchern degeneriert zum Überlebenden, Gefangenen, Toten, Helden für Führer Volk und Vaterland, für die Heimat Russland, für Stalin, stellen wir dich an die Wand, die noch steht, wo kein Stein mehr auf dem anderen und keine Wand, um die zu erschießen, die Angst nicht hinnehmen.
Klappspaten, Helme, Granatensplitter, Reagenzgläser: Ein Feldlazarett, sagt Zhana. Viele liegen zu tief, dann finden wir sie nicht mehr. Und wenn sie im Lazarett waren, dann haben sie nichts Metallenes dabei, dann finden wir sie auch nicht.
Totenacker. Kartoffeln, Weizen, Mais. Ernteeinsatz der Pioniere, Sowjetsommer, Abends Suppe und Erntefeuer mit Kartoffeln in der Glut, Kasha für den Leib, Katjuscha für die Seele. Küsse, Leben, erste Liebe oder auch schon die zweite. Feldlerchen. Vodka am Ende des Abends, Souvenirvergleich.
Stoppelfelder. Brennen. Herbst. Kolchosbauern pflügen das Feld, hier und da liegt ein Kopf, Beine auch. Den Menschen gibt es lang schon nicht mehr, auch seine Knochen sind verteilt vom Pflug. Bestatten verboten. Kein Quadratmeter wird verschwendet. Wir steigern die Erträge zum Wohle der Volkswirtschaft. Früh der erste Schnee, bedeckt das Feld. Bis zum nächsten Jahr.
Jahr um Jahr.
Ruhmreich.
Wir hätten dich gern kennengelernt. Deine Kinder, Enkel und Urenkel. Erwin Guhl, 25. Januar 1918, vermisst Januar 1943. Im Februar war die Schlacht vorbei.
Flimmern in der Luft.
Zhana hockt sich ins Gras. Sie wurden zweimal verarscht, heute ist Bestatten erlaubt. Stille auf dem ruhelosen Feld. Ein paar Kreuze. Deutsches Massengrab. Ein Weg. Gegenüber ein Obelisk, grüne Helme. Dort liegen Russen, viele namenlos, gesichtslos alle. Ihre Schädel kahl nach 70 Jahren.
Druschba, Mir, sagt der Taxifahrer. Der Preis verdoppelt sich. Er war Fallschirmspringer, 1999 im Kosovo, heute ist er Taxifahrer in Wolgograd.