gruß aus poti

Ihr Lieben,

nach langer Zeit raffe ich mich auf, ein paar Zeilen in meinen Laptop zu hacken. Der Akku ist bald alle, und ich weiß nicht, ob es Strom gibt.

Ich bin vor mehreren Wochen in Poti angekommen, seitdem lässt mich dieser Ort nicht mehr los. Poti ist eine Hafenstadt in Georgien, voller schwarzer Insekten, die ständig die Straße kreuzen. Obsidian, die Ikone, ist schuld, sagte Katja immer, die anfangs noch hier war. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht.

Überall tragen Hunde die Insekten hin. Die Insekten besitzen diese Hunde längst, und auch an meinen Beinen habe ich unlängst zwei entdeckt. Sie versuchen, mir Befehle zu geben, aber ich verstehe sie noch nicht. Es schmerzt sehr, aber es ist auszuhalten. Am Anfang habe ich die Tiere noch versucht zu erschlagen, aber aus meinem Bett krochen immer mehr. Als ich anfing, sie zu akzeptieren, gingen die meisten, nur diese beiden blieben. Seitdem sind es meine Käfer. Und ich ihr Mensch. Wir suchen noch einen Weg, uns miteinander zu verständigen, die beiden schwarzen Käfer und ich. Meine Tage haben so einen Sinn bekommen.

Die Tage vergehen schnell im Hotel „Anchor“. Das Zimmer ist einfach. Ich habe es seit drei Wochen nicht mehr verlassen, oder sind es schon vier? Zeit verschwimmt. Anfangs kam noch das Zimmermädchen, um sauber zu machen. Sie war lange nicht hier. Niemand betritt dieses Zimmer. Die Klimaanlage ist kaputt. Der Sommer ist eh bald vorüber. Ich bin froh, dass niemand mehr kommt. So kann auch niemand nach Geld fragen. Ich könnte die Rechnung nicht bezahlen.

Ihr Lieben daheim,
ich habe hier meinen Platz gefunden. Ihr wisst ja, ich habe nie viel zum Leben gebraucht. Wenn es so etwas wie Glück gibt, so kann ich Euch versichern, dass ich einen Zustand erreicht habe, in dem Glück für mich keine Rolle mehr spielt. Wichtig ist, dass die Zeit vergeht. Nichts anderes. Der Zustand des Wartens ist das endgültige Ziel geworden. Jede Anstrengung, diesen Zustand zu durchbrechen, ist ein Schritt zurück im Prozess der Bewusstseinswerdung.

Jetzt fangen die schwarzen Insekten wieder an, sich in mein Bein zu bohren. Ich stehe auf, sie hören damit auf. Ich gehe hinüber zu dem kleinen Tisch im Hotelzimmer und löffel ein wenig von dem Brei des Obstes, das ich gekauft habe, als ich das letzte mal draußen war. Hier gibt es seit geraumer Zeit kein Wasser mehr. Die anderen schwarzen Käfer leben im Bad von dem, was ich ausscheide. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Käfer ein ausgeklügeltes Schichtsystem haben. Ich meine, sogar Gesichts- und Charakterzüge bei ihnen zu erkennen. Ich kehre zu den Ursprüngen zurück. Ich werde ein Teil der Käfer werden.

Ich singe manchmal dieses alte Lied. Ganz leise. Die Käfer mögen das nicht.
„Hoch auf dem gelben Wagen
sitz ich beim Schwager vorn.
Vor uns die Rösslein traben,
lustig schmettert das Horn…“

Poti zu verlassen, scheint unmöglich geworden zu sein, unvorstellbar, und warum auch. Ich habe alles, außer Strom und Wasser.

Versucht nicht, mich in Poti zu finden. Ich würde nicht mit Euch fortgehen.

Behaltet mich in guter Erinnerung.