Heute wird Vladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, 150. Der Geburtstag gilt als sicher, große Teile besonders seines späteren Lebens müssen unter dem Blickwinkel der Verfälschung betrachtet werden. Knapp 2.800 Denkmäler zählte die BBC vor drei Jahren in Russland: Lenin lesend auf einer Bank, sprechend zum Volk, entschlossen in eine helle Zukunft blickend. Auch in der Metro ist Lenin allgegenwärtig (siehe Foto). Ich hatte die Ehre, Lenin für den SWR zu würdigen.
Zürich, 1916, das Cabaret Voltair in der Spiegelgasse. Abend für Abend vollführten die Künstler ein wildes, sinnlos anmutendes Spektakel. Der Überlieferung zu Folge saß dort an einem Tisch ein kleiner Mann mit leicht asiatischen Gesichtszügen. Ein Nachbar. Und jener Nachbar, der so gar nicht wie ein Schweizer aussah, amüsierte sich dermaßen, dass er vor Freude mit der Hand auf den Tisch haute und mit fistelnder Stimme laut rief: „Da! Da! Da!“ Oder auf Deutsch: “Ja! Ja! Ja!” Und bald riefen alle im Cabaret Voltair: „Da! Da! Da!“. DaDa. Ein Begriff war geboren. Der kleine Nachbar war niemand anderes als Vladimir Iljitsch Uljanow, Kampfname Lenin.
Wieviel DaDa steckt in der russischen Revolution? War Lenin DaDaist? Angesichts der Millionen Menschen, die in Folge seiner Machtübernahme in Russland gestorben sind, mutet der Gedanke zynisch an. Dabei ist der Rückblick auf Lenins Leben und Wirken von Mythen und Verherrlichung durchzogen. Zunächst kam Lenin zu spät. Als er 1917 aus dem Schweizer Exil nach Petrograd kam, war der Zar bereits gestürzt und eine bürgerlich-liberale Regierung an der Macht. Die Revolution musste also in den Oktober verschoben werden. Und Lenin musste natürlich ihr Anführer sein.
Was folgte waren ein Bürgerkrieg, revolutionäre Säuberungen, und schließlich, nach Lenins Tod, Stalin, der die Zahl der Toten in exorbitante Höhen trieb. Vor ihm hatte Lenin angeblich gewarnt. Ein sinnloses Massensterben.
Lenin
wollte angeblich keinen Personenkult. Doch nach seinem Tod wurde er
nicht beerdigt, sondern ausgestellt und bis heute liegt er einbalsamiert
im Mausoleum auf dem Roten Platz. Der Personenkult nahm bisweilen
absurde Züge an. Wissenschaftler haben seinen Leichnam mehrfach
auseinander genommen. Besonders sein Gehirn. Akribisch suchten sie dort
nach dem Schlüssel zum Kommunismus oder wenigstens nach einem Nachweis
für das Genie des Revolutionsführers. Das ist kein Witz. Jahrzehnte
standen Witze über ihn unter Strafe.
In den 90ern führte der
Leningrader Untergrund-Musiker Sergej Kurjochin im Fernsehen den
angeblichen Nachweis, dass Lenin zu viele halluzinogene Pilze gegessen
habe:
“Ich habe hier einen Auszug aus einem Brief Clara Zetkins an Rosa Luxemburg: „Gestern war Wolodja hier.“”
Wolodja ist die Koseform von Wladimir. Gemeint ist Lenin.
“Er hatte es sehr eilig und bat um eine Kleinigkeit zu essen. Er wollte unbedingt Pilze.”
Und dann behauptete der Musiker, halten Sie sich fest, es ist revolutionär: Lenin habe sich dabei selbst in einen Pilz verwandelt.
In Russland ist Lenin zur Zeit übrigens gar nicht beliebt. Und auch das ist nicht etwa Einsicht, es ist die Vorgabe der Geschichtspolitik. Denn Revolutionen sind für Präsident Putin per se schlecht. Er hält es mit Stalin, den Lenin wohl verhindern wollte, der gleichwohl die gottgleiche Verherrlichung Lenins in ungeahnte Höhen trieb. Und die Anhänger des Sowjetkommunismus weltweit folgten dem kritiklos: Hier ein Auszug aus dem Requiem für Lenin von 1937 auf dem Höhepunkt des Terrors gegen die eigene Bevölkerung. Text Bertolt Brecht, Musik Hanns Eisler:
“Als Lenin starb war es, als ob der Baum zu den Blättern sagte: „Ich gehe!“”